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Madhhab      

 

 
 

Über die vier Rechtsschulen und die Notwendigkeit, einer von ihnen zu folgen.

Abd al-Hakim Murad   (Aus dem Englischen übersetzt von Abd al-Hafidh Wentzel ) 

 

 

  Vorbemerkung des Übersetzers (Abd al-Hafidh Wentzel): 

 

 

Die gröss te Errungenschaft der Ummah im Verlauf des vergangenen Jahrtausends ist zweifelsohne ihr innerer geistiger Zusammenhalt gewesen. Vom fünften Jahrhundert nach der Hijra fast bis in unsere Tage und trotz des äusserlichen Dramas des Aufeinanderprallens von Dynastien haben die Muslime der Ahl as-Sunnat wal-Jama'at untereinander beinahe ausnahmslos eine Haltung von religiösem Respekt und Brüderlichkeit bewahrt. Es ist eine augenfällige Tatsache, dass sie innerhalb dieser langen, in vielerlei Hinsicht äusserst schwierigen Periode so gut wie nicht von religiösen Kriegen, UnRuuhhen oder Verfolgungen gespalten wurden.

 

Die Geschichte religiöser Bewegungen legt nahe, dass dies ein auss ergewöhnliches Ergebnis ist. Die gängige soziologische Ansicht, wie sie von Max Weber und seinen Schülern vertreten wird, ist, dass Religionen sich einer anfänglichen Phase von Einheit erfreuen und dann in eine zunehmend heftigere Zersplitterung, angeführt von rivalisierenden Hierarchien, stürzen. Das Christentum hat dafür sicher das deutlichste Beispiel abgegeben, doch könnte man viele andere aufzählen, einschliess lich säkularer "Glaubensbekenntnisse" wie dem Marxismus. Auf den ersten Blick ist die Fähigkeit des Islam, dieses Schicksal zu vermeiden, erstaunlich und bedarf sorgfältiger Analyse.

 

Natürlich gibt es eine einfache und direkte religiöse Erklärung. Islam ist die letzte Religion, sozusagen "der letzte Bus nach Hause", und geniess t als solche göttlichen Schutz vor endgültigen Formen des Verfalls. Es trifft zu, dass das, was 'abdul Wadud Schalabi als spirituelle Entropie (Nichtumkehrbarkeit) bezeichnet hat, seit der Einführung des Islam am Werke ist, eine Tatsache, die durch eine Reihe von Hadiithen wohlbelegt ist. Nichtsdestotrotz hat die Vorsehung die Ummah nicht vernachlässigt. Frühere Religionen rutschen langsam oder von Schmerzen begleitet ab in Zersplitterung und Bedeutungslosigkeit; während die Islamische Frömmigkeit, wenngleich von schwindender Qualität, Mechanismen mitbekommen hat, die ihr erlauben, einen Grossteil des Sinnes für Einheit zu bewahren, dem in ihren glorreichen Tagen so gross e Bedeutung zugemessen wurde. Wohin auch immer die grotesken Darbietungen der Amire und Politiker führen mögen, die Bruderschaft der Gläubigen, eine Realität in der Anfangsgeschichte des Christentums und einiger anderer Religionen, besteht auch nach vierzehnhundert Jahren weiter als zwingendes Prinzip für die meisten Anhänger der letzten und definitiven Gemeinschaft der Offenbarung im Islam. Der Grund ist einfach und unwiderlegbar: Gott hat uns diese Religion als Sein letztes Wort gegeben, und deshalb muss sie weiterbestehen, unangetastet in ihren Grundlagen des Tauhid, Gottesdienstes und Ethik, bis zu den Letzten Tagen. Eine solche Erklärung besitzt offenkundig Vorteile. Doch bleibt darüber hinaus eine Reihe schmerzlicher Ausnahmen aus der frühesten Phase der Geschichte erklärungsbedürftig. Der Prophet selbst ? möge Allah ihm Segen und Frieden schenken ?  hatte seinen Gefährten ? möge Allah mit ihnen zufrieden sein ? in einem von Imam Tirmidhi überlieferten hadiith mitgeteilt: "Wer immer von euch mich überleben wird, wird einen riesigen Disput sehen" . Dies ist, genau wie der Prophet, Allahs Segen und Friede über ihm, es vorhergesagt hatte, eingetreten. Die Spaltungen am Anfang: Die schreckliche Revolte gegen 'Uthman, möge Allah mit ihm zufrieden sein, der Zusammenstoss zwischen 'ali und Mu'awiyya, möge Allah mit ihnen beiden zufrieden sein, die blutige Abspaltung der Kharijjiten ? all dies trieb, fast von Anbeginn, das Messer der Zwietracht in den Körper der muslimischen Gemeinschaft. Nur die inhärente geistige Klarheit und Liebe zur Einheit unter den Gelehrten der Ummah konnte ? mithilfe göttlicher Intervention ? die frühen Zuckungen des Spaltertums besiegen und schuf eine starke und harmonische sunnitische Mehrheit, die zumindest auf der rein religiösen Ebene neunzig Prozent der Ummah für neunzig Prozent ihrer Geschichte geeint hat. 

 

 

Das In-Erscheinung-Treten der sunnitischen Orthodoxie

 

Irgendwann im vierten und fünften Jahrhundert des Islam ereignete sich etwas historisch höchst Bedeutsames. Das Sunnitentum trat als ein detailliertes System in Erscheinung, das so gut ausgearbeitet war und so offensichtlich der Weg der gross en Mehrheit der 'Ulema war, dass die Anziehungskraft rivalisierender Bewegungen rapide schwand. Der sunnitische Islam, in der Mitte zwischen den beiden Extremen des egalitären Kharijjitentums einerseits und dem hierarchischen Schi'Itentum andererseits, war lange Zeit mit Diskussionen über sein eigenes Konzept von Autorität beschäftigt gewesen. Für die Sunniten war Autorität definitionsgemäss im Qur'an und in der Sunna  festgelegt. Jedoch angesichts der enormen Anzahl von Hadiithen, die in verschiedenen Formen und Überlieferungen nach der Migration der Gefährten und Nachfolger über die Länge und Breite der Islamischen Welt verstreut waren, stellte sich heraus, dass die Sunna zuweilen schwer zu deuten war. Selbst nachdem die zuverlässigen Hadiithe aus dieser Anzahl von insgesamt einigen hunderttausend hadiith-Überlieferungen herausgesiebt worden waren, blieben einige Hadiithe, die zueinander oder sogar zu Versen des Qur'an im Widerspruch zu stehen schienen. Es war offensichtlich, dass simplizistische Lösungen wie die der Kharijjiten, nämlich einen kleinen Corpus von Hadiithen zu etablieren und Lehre und Gesetz direkt daraus abzuleiten, nicht funktionieren konnten. Die inneren Widersprüche waren zu zahlreich, und die darauf gestützten Deutungen waren zu komplex, um die Qadis in die Lage zu versetzen, Urteile zu fällen, indem sie einfach den Qur'an und hadiith-Sammlungen an der entsprechenden Seite aufschlugen.

 

 

Prinzipien (usul) zur Lösung textlicher Widersprüche

 

Die Gründe, die den Fällen offenbar einander widersprechender offenbarter Texte zugrunde lagen, wurden von den frühen 'Ulema genauestens untersucht, häufig im Verlauf fortdauernder Debatten zwischen den brilliantesten Denkern, ausgestattet mit den perfektesten photografischen Gedächtnissen. Ein Grossteil der Wissenschaft der Islamischen Jurisprudenz (usul al-figh) wurde entwickelt, um zur Bewältigung derartiger Widersprüche feststehende Mechanismen zu schaffen, die getreue Übereinstimmung mit dem grundlegenden Ethos des Islam gewährleisteten. Der Begriff Ta'arrud al-adilla ("Widersprüchlichkeit der Beweisquellen") ist allen Studenten Islamischer Jurisprudenz als eines der am meisten Sorgfalt verlangenden und komplexesten aller muslimischen Gesetzeskonzepte bekannt. Frühe Gelehrte wie Ibn Qutayba sahen sich veranlasst, diesem Thema ganze Bücher zu widmen. Die 'Ulema  der grundlegenden Prinzipien (usul) erkannten als ihre Ausgangsvoraussetzung an, dass Widersprüche zwischen den offenbarten Texten nichts weiter als Widersprüche in der Deutung und keinesfalls Ungereimtheiten in der Botschaft des Gesetzgebers, wie sie vom Propheten, Allahs Segen und Friede sei über ihm, übermittelt worden war, sein konnten. Die Botschaft des Islam war vor seinem Dahinscheiden vollkommen überbracht worden; und die Aufgabe der späteren Gelehrten war ausschliess lich die Deutung und keinesfalls die "Überarbeitung" derselben. In diesem Bewusstsein beginnt der Islamische Gelehrte, wenn er einen problematischen Text untersucht, mit einer Reihe von akademischen Voruntersuchungen und Lösungsmethoden. Das von den frühen 'Ulema entwickelte System besteht darin, dass der Gelehrte, wenn sich zwei Qur'an- oder Hadiithtexte zu widersprechen scheinen, zuerst eine sprachliche Analyse der Texte vornimmt, um festzustellen, ob der Widerspruch einem Fehler in der Interpretation des Arabischen entspringt. Wenn der Widerspruch dadurch nicht gelöst werden kann, muss er versuchen, anhand einer Reihe von text-, rechts- und  geschichtsspezifischen Techniken festzustellen, ob einer der beiden Texte Gegenstand von takhsis, das heisst: nur bestimmte Umstände betreffend, ist und deshalb eine spezielle Ausnahme von dem in dem anderen Text zum Ausdruck gebrachten allgemeineren Prinzip darstellt. Darüber hinaus muss der Jurist den textspezifischen Status des Berichts in Betracht ziehen, indem er sich das Prinzip ins Gedächtnis ruft, dass ein Qur'anvers ein hadiith aufhebt, das nur mit einer Isnad (die Art von hadiith, die als Ahad bekannt ist) überliefert ist, genau wie dies ein hadiith, das von vielen Isnad (mutawatir oder maschhur) überliefert ist, tut. Sieht der Jurist, nach Anwendung all dieser Mechanismen, dass der Widerspruch immer noch weiterbesteht, muss er untersuchen, ob einer der beiden Texte Gegenstand einer förmlichen Aufhebung (Abrogation, arab.: naskh) durch den anderen ist. 

 

 

Das Prinzip der Abrogation (Naskh )

 

Das Prinzip des Naskh ist ein Beispiel dafür, wie die Sunni-'Ulema bei der Behandlung des heiklen Themas Ta'arrud al-adilla ihren Ansatz auf eine Art von Umgang mit Textaussagen gründeten, die schon viele Male zu Lebzeiten des Propheten, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, Anwendung gefunden hatte. Die Gefährten wussten durch 'Ijma, dass während der Jahre, in denen der Prophet seine Botschaft überbrachte, in denen er sie lehrte und schulte und sie von der Wildheit des Heidentums zum nüchternen und barmherzigen Weg des Monotheismus führte, diese Lehre Gegenstand göttlicher Formung entsprechend ihrem Entwicklungstempo gewesen war. Der wohl bekannteste Fall davon war das stufenweise Verbot des Weines, dessen Genuss in einem frühen Qur'anvers als unbeliebt, in einem späteren als verwerflich und schliess lich als verboten bezeichnet wurde. Ein anderes, ein noch grundlegenderes Prinzip berührendes Beispiel ist das des rituellen Gebetes (ss alaaht), welches für die frühe Ummah nur zweimal täglich Pflicht gewesen war, nach der Mi'raj jedoch fünfmal täglich zur Pflicht wurde. Mut'a (Heirat auf Zeit) war in den frühen Tagen des Islam erlaubt gewesen, wurde aber schliess lich verboten, nachdem die sozialen Bedingungen sich entwickelt, der Respekt für Frauen zugenommen und die Moral sich gefestigt hatten. Es gibt ein ganze Reihe solcher Fälle, die meisten lassen sich auf die Jahre unmittelbar nach der Hijra datieren, in denen sich die Situation der jungen Ummah radikal wandelte. Es existieren zwei Formen von Naskh: explizit (sarih) oder implizit (dimni). Die erste ist leicht zu erkennen, weil sie Texte betrifft, die selbst zum Ausdruck bringen, dass eine frühere Regelung geändert wird. Zum Beispiel gibt es im Qur'an einen Vers (2:142), der den Muslimen befiehlt, sich beim Gebet der Ka'aba zuzuwenden statt nach Jerusalem. In der Hadiithliteratur findet man diesen Fall noch viel häufiger. Zum Beispiel lesen wir in einem von Imam Muslim überlieferten hadiith: "Ich hatte euch verboten, Gräber zu besuchen; doch nun sollt ihr sie besuchen." Als Kommentar hierzu erklären die 'Ulema, der hadiith, dass in der Frühzeit des Islam, als die Praktiken der Götzenanbetung noch frisch im Gedächtnis der Menschen waren, das Besuchen von Gräbern in der Befürchtung verboten worden war, dass einige neue Muslime dort Schirk begehen könnten. Nachdem aber die Muslime in ihrem Verständnis von Tauhid gestärkt und dieser in ihrem Bewusstsein und ihren Herzen fest verwurzelt war, wurde dieses Verbot als nicht länger notwendig aufgegeben, so dass es heute empfohlene Praxis für die Muslime ist, Gräber zu besuchen, um für die Verstorbenen zu beten und ans Jenseits erinnert zu werden. Die andere Form des Naskh ist subtiler und forderte den Scharfsinn der frühen 'Ulema oft bis an ihre Grenzen heraus. Dabei handelt es sich um Texte, die frühere aufheben oder modifizieren, ohne im Text selbst darzulegen, dass dies der Fall ist. Die 'Ulema  haben dafür eine Vielzahl von Beispielen gegeben, einschliess lich der zwei Verse in Surat al-Baqara, die unterschiedliche Anweisungen bezüglich der Zeitspanne angeben, während derer Witwen (nach dem Tode ihres Mannes) aus dem Nachlass unterhaltsberechtigt sind (2:240 und 234). 

 

Und in der Hadiithliteratur gibt es das Fallbeispiel, in dem der Prophet, Allahs Segen und Friede sei über ihm, als er von Krankheit gezwungen im Sitzen betete, die Gefährten aufforderte, ebenfalls im Sitzen hinter ihm zu beten. Dieses hadiith wird von Imam Muslim überliefert. Und doch finden wir ein anderes hadiith, ebenfalls bei Imam Muslim, welches einen Fall belegt, in
dem die Gefährten stehend hinter dem Propheten, der Segen Allahs und Sein Friede seien auf ihm, beteten, während dieser das Gebet sitzend verrichtete. Der offenbare Widerspruch wurde durch eine sorgfältige Analyse der Chronologie gelöst, welche zeigte, dass der zuletzt genannte Fall nach dem erstgenannten stattfand und deshalb darüber Vorrang geniesst. Solches wird im figh der gross en Gelehrten in passender Weise gewürdigt. Die Techniken zur Identifizierung von Naskh haben die 'Ulema in die Lage versetzt, den gröss ten Teil der erkannten Fälle von ta'arrud al-adilla zu lösen. Sie verlangen nicht nur umfassende und detaillierte Kenntnisse der verschiedenen hadiith-Wissenschaften, sondern ebenso viel Wissen in den Bereichen Geschichte, Siirahh, bezüglich der von den Gefährten und anderen Gelehrten vertretenen Ansichten und der Umstände bei der Entstehung und
Exegese der betreffenden Hadiithe. In manchen Fällen sahen sich hadiith-Gelehrte veranlasst, von einem Ende der Islamischen Welt zum anderen zu reisen, um in den Besitz der notwendigen Informationen ein einziges hadiith betreffend zu gelangen. In Fällen, in denen trotz all dieser Bemühungen eine Abrogation nicht nachzuweisen ist, sahen die 'Ulema der Salaf weitere Untersuchungen als nötig an. Von Bedeutung ist dabei besonders die Analyse des Matn (der überlieferte Text im Gegensatz zur Isnad des hadiith). "Klare" (sarih) Feststellungen geniessen Vorrang gegenüber "indirekten" (kinaya), und "definitive" (muhkam) Aussagen wird der Vorrang vor zweifelhafteren Kategorien wie "interpretiert" (mufassar), "obskur" (khafi) und "problematisch" (muschkil) gegeben. Es kann sich auch als notwendig erweisen, die Position der Überlieferer von einander widersprechenden Hadiithen genauer zu betrachten, um dem Bericht desjenigen den Vorzug zu geben, der direkter beteiligt war. Ein berühmtes Beispiel dafür ist das hadiith, überliefert von Maymuna, möge Allah mit ihr zufrieden sein, das besagt, dass der Prophet, Allahs Segen und Friede sei über ihm, sich nicht im Weihezustand (Ihram) für die Pilgerfahrt befand, als er sie heiratete. Weil ihr Bericht der einer Augenzeugin war, wurde ihrem hadiith Vorrang vor dem dazu im Widerspruch stehenden des Ibn 'abbas, möge Allah mit ihm zufrieden sein, gegeben, welches mit einer ähnlich zuverlässigen Isnad besagt, der Prophet, der Segen Allahs und Sein Friede sei auf ihm, sei zu jenem Zeitpunkt tatsächlich im Zustand des Ihram gewesen. Es gibt noch eine Vielzahl weiterer Regeln wie beispielsweise die Aussage: "Verbot geht vor Erlaubnis". Ebenso können Widersprüche zwischen Hadiithen
gelöst werden, indem man auf die Fatwa eines der Gefährten, möge Allah mit ihnen zufrieden sein, zurückgreift, nachdem man sich vergewissert hat, dass alle relevanten Fatwas verglichen und berücksichtigt wurden. schliess lich mag man Qiyas (Analogie) anwenden. Ein Beispiel dafür sind die vielfältigen Berichte über das Gebet bei Sonnenfinsternis (ss alaaht ul-khusuf), die verschiedene Anzahl von Beugungen und Niederwerfungen spezifizieren. Nach genauester Untersuchung der Berichte haben die 'Ulema, nachdem alle oben erwähnten Mechanismen keine Lösung der Widersprüche gebracht hatten, den Analogieschluss angewandt, indem sie schlossen, dass, da das fragliche Gebet immer noch als ss alaaht bezeichnet wird, die übliche Form von ss alaaht eingehalten werden solle, nämlich eine Beugung und zwei Niederwerfungen. Die übrigen Hadiithe sollen nicht mehr in Betracht gezogen werden. 

 

 

Imam Schafi'Is Methode zur Konflikt-Lösung bei Quellentexten

 

Diese sorgfältige Artikulation der Methoden zur Lösung von Widersprüchen bei Quellentexten ? so lebenswichtig für die exakte Ableitung der Schar'Iiah aus den offenbarten Quellen ? verdanken wir in erster Linie dem Schaffen des Imam Schafi'I. Konfrontiert mit der Verwirrung und der Uneinigkeit seiner zeitgenössischen Juristen und entschlossen, eine schlüssige Methodologie festzulegen, die die Etablierung eines figh ermöglichte, in dem die Gefahr von Fehlern so weit wie menschenmöglich ausgeschlossen war, schrieb Schafi'I sein brillantes Risala (Abhandlung der Islamischen Rechtslehre). Seine Ideen wurden in unterschiedlicher Art und Weise von Juristen der wichtigsten anderen Gesetzesschulen übernommen und sind heute grundlegender Bestandteil bei der formellen Anwendung der Schar'Iiah. Schafi'Is System zur Vermeidung von Fehlern bei der Ableitung von Islamischen Regeln aus der Vielzahl der Beweisquellen wurde bekannt als Usul al-figh (die "Wurzeln des figh"). Ebenso wie die übrigen formalen akademischen Wissenschaftszweige des Islam war dies keine Neuerung im negativen Sinne, sondern ein Herausarbeiten von Prinzipien, die bereits zur Zeit der frühesten Muslime erkennbar waren. Im Laufe der Zeit kodifizierte jede der gross en Rechtsschulen ihre eigene Form dieser "Wurzeln", die in manchen Fällen auseinanderstrebende "Zweige" hervorbrachten (d. h. unterschiedliche praktische Regelungen). Doch wenn auch die Debatten, die von diesen Abweichungen ausgelöst wurden, gelegentlich recht energisch geführt wurden, waren sie bedeutungslos verglichen mit den gross en sektiererischen und das Gesetz betreffenden Auseinandersetzungen, die während der ersten zwei Jahrhunderte des Islam stattgefunden hatten, bevor die Wissenschaft der Usul al-figh dieser chaotischen Uneinigkeit ein Ende machte. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass, obwohl die vier Imame Abu Hanifa, Malik ibn Anas, Asch-Schafi'I und Ibn Hanbal als Gründer dieser vier gross en Rechtsschulen betrachtet werden, die wir, nach einer Definition gefragt zusammenfassend als "ausgefeilte Techniken zur Vermeidung von Neuerungen" bezeichnen könnten, ihre Rechtsschulen erst von späteren Generationen von Gelehrten bis zur Vollkommenheit systematisiert wurden. Die sunnitischen 'Ulema erkannten schnell die Exzellenz der vier Imame, und gegen Ende des dritten Jahrhunderts des Islam finden wir kaum einen Gelehrten, der einer anderen Schule folgt. Die gross en hadiith-Spezialisten einschliess lich al-Buchari und Muslim waren allesamt loyale Anhänger des einen oder anderen
Madhhab, speziell desjenigen des Imam Schafi'I. 

 

 

Die Verfeinerung der einzelnen Madhhabs

 

Innerhalb eines jeden Madhhab jedoch arbeiteten die führenden Gelehrten weiter an der Verbesserung und Verfeinerung der "Wurzeln" und "Zweige" ihrer jeweiligen Schule. In manchen Fällen machte die historische Situation dies nicht nur möglich, sondern notwendig. Zum Beispiel waren Gelehrte der Schule des Abu Hanifa, die auf den frühen Gesetzesschulen von Kufa und Basra aufbaute, in bezug auf einige Hadiithe, die im Iraq in Umlauf waren, wegen der Häufigkeit von Fälschungen, hervorgerufen durch den dort starken sektiererischen Einfluss, sehr vorsichtig. Später jedoch, nachdem die autorisierten Sammlungen von Bukhari, Muslim und anderen erhältlich waren, zogen folgende Generationen von Hanafi-Gelehrten zur Formulierung und Überarbeitung ihres Madhhab den gesamten Korpus von Hadiithen in Betracht. Diese Art von Prozess dauerte zwei Jahrhunderte, bis die Rechtsschulen im vierten und fünften Jahrhundert nach der Hijra einen Reifezustand erreicht hatten. In dieser Zeit war es auch, dass eine Haltung von Toleranz und wohlwollendem Respekt unter den Rechtsschulen von allen Seiten akzeptiert wurde. Dies wurde von Imam al-Ghazali formuliert, selbst Verfasser von vier Textbüchern in Schafi'I figh und Autor des al-Mustasfa, welches von vielen als das am weitesten entwickelte und exakteste aller Werke der Usul al-figh angesehen wird. In seinem wohlbekannten Bemühen um Aufrichtigkeit und seiner Abscheu vor Zurschaustellung von Rivalitäten unter den Gelehrten verurteilte er aufs schärfste, was er als "fanatische Anhängerschaft an einen Madhhab"(!) bezeichnete. (Ihya 'Ulum ad-Din, 65.) Während es eineseits für den Muslim notwendig ist, einem anerkannten Madhhab zu folgen, um die tödliche Gefahr einer Fehlinterpretation der Quellen zu vermeiden, darf er doch nicht in die Falle gehen, seine eigene Rechtschule als grundsätzlich den anderen überlegen zu betrachten. Von wenigen unbedeutsamen Ausnahmen abgesehen sind die gross en Gelehrten des sunnitischen Islam diesem von Imam al-Ghazali vorgegebenen Ethos gefolgt und haben ein jeder dem Madhhab des anderen auffallenden Respekt erwiesen. Diese Tatsache werden all diejenigen, die bei traditionellen 'Ulema studiert haben, bestätigen können. Die Entwicklung der Vier Schulen lähmte nicht, wie manche Orientalisten behaupten, die Fähigkeit zur Verfeinerung und Ausweitung des positiven Rechts. Im Gegenteil standen damit ausgeklügelte Mechanismen zur Verfügung, die qualifizierte Personen nicht nur in die Lage versetzten, die Scharia selbständig aus dem Qur'an und der Sunna abzuleiten, sondern sie sogar eben dazu verpflichteten. Nach der Auffassung der überwiegenden Meinung der Gelehrten ist es einem Experten, der die Quellen vollständig gemeistert hat und eine Reihe von wissenschaftlichen Vorbedingungen erfüllt, nicht gestattet, den vorliegenden Bestimmungen seiner Rechtsschule zu folgen, sondern er muss diese selbst aus den offenbarten Quellen ableiten. Eine solche Person bezeichnet man als Mujtahid, ein Begriff, der auf ein bekanntes hadiith von Mu'adh ibn Jabal zurückgeführt wird. 

 

 

Wer ist qualifiziert, Ijtihad zu machen?

 

Kaum jemand wird wohl ernsthaft bestreiten wollen, dass ein Muslim, der sich jenseits des Bereiches der Expertenmeinungen wagt und selbst direkt auf Qur'an und Sunna Bezug nimmt, ein Gelehrter von gross er Eminenz sein muss. Die Gefahr, dass Menschen die Quellen missverstehen und so der Schar'Iiah Schaden zufügen, ist äusserst real, wie die Zwistigkeiten und Streitigkeiten gezeigt haben, die einen Teil der frühen Muslime in der Zeit vor der Etablierung der orthodoxen Rechtsschulen plagten. Ganze Religionen waren in vorIslamischer Zeit von unsachgemässem Schriftgelehrtentum zu Fall gebracht worden, und es war lebenswichtig, dass der Islam vor einem vergleichbaren Schicksal bewahrt würde. Um die Schar'Iiah vor der Gefahr von Neuerungen und Verzerrungen zu schützen, legten die gross en Gelehrten der Usul rigorose Bedingungen für denjenigen fest, der für sich das Recht auf Ijtihad in Anspruch nehmen wollte. Diese Bedingungen beinhalten: a) Vollkommene Kenntnis der arabischen Sprache, um die Möglichkeit der Missinterpretation der Offenbarung aus rein sprachlichen Gründen zu minimieren; (b) Profunde Kenntnis des Qur'an und der Sunna und der Begleitumstände der Offenbarung jedes Verses und jedes hadiith, gepaart mit vollständiger Kenntnis der Qur'an- und hadiith-Kommentare sowie Beherrschung aller oben genannten Interpretationstechniken; (c) Kenntnis der spezialisierten Hadiithwissenschaften wie z. B. der Bewertung von Überlieferern und Matn; (d) Kenntnis der Ansichten der Prophetengefährten, möge Allah mit ihnen zufrieden sein, ihrer Nachfolger und der gross en Imame, und der Positionen und Begründungen, wie sie in den Textbüchern des figh dargelegt sind, sowie, damit verbunden, Kenntnis der Fälle, in denen eine Übereinstimmung (Ijma) erreicht worden ist; (e) Kenntnis des Wissenschaftszweiges der Gesetzesverfahren betreffenden Analogie (Qiyas), ihrer Arten und Voraussetzungen; (f) Kenntnis der eigenen Gesellschaft und der öffentlichen Interessen (Maslaha); (g) Wissen betreffs der allgemeinen Zielsetzungen (Maqasid) der Schar'Iiah; (h) Ein hohes Mass an Intelligenz und persönlicher Frömmigkeit, verbunden mit den Islamischen Tugenden Barmherzigkeit, Höflichkeit und Bescheidenheit. 

 

Ein Gelehrter, der diese Bedingungen erfüllt, kann als Mujtahid fi'l Schar' bezeichnet werden, und er ist nicht verpflichtet ? es ist ihm sogar nicht einmal gestattet ?, einem der bestehenden autorisierten Madhhabs zu folgen. Dies ist, was einige der Imame sagten, als sie ihren Meisterschülern untersagten, sie unkritisch zu imitieren. Für die viel gröss ere Anzahl der Gelehrten jedoch, deren Expertentum nicht solch schwindelerregende Höhen erreicht, ist es möglich, ein Mujtahid fi'l Madhhab zu werden, das heisst, ein Gelehrter, der im gross en und ganzen an den Lehren seiner Rechtsschule festhält, jedoch qualifiziert ist, innerhalb dieser von überkommenen Ansichten abzuweichen. Es gibt eine gross e Anzahl von Beispielen solcher Männer, wie zum Beispiel Imam an-Nawawi unter den Schafi'Iten, Qadi Ibn 'abd al-Barr unter den Malikiten, Ibn 'abidin unter den Hanafiten oder Ibn Qudama unter den Hanbaliten. All diese Gelehrten betrachteten sich selbst als Anhänger der fundamentalen Interpretationsgrundsätze ihres jeweiligen Madhhabs, jedoch wird von einer Vielzahl von Fällen berichtet, in denen sie ihre Fähigkeiten als Gelehrte und ihr Urteilsvermögen nutzten und so zu neuen Verdikten innerhalb ihrer Rechtsschule kamen. An diese Experten war auch der Rat der Mujtahid-Imame wie Imam Schaf'I'Is Anweisung "wenn du ein hadiith findest, das meinem Urteil widerspricht, so folge dem hadiith" bezüglich Ijtihad gerichtet. Es ist offensichtlich ? was auch immer einige Autoren heutzutage glauben machen möchten ?, dass solche Ratschläge niemals für den Gebrauch der Islamisch-ungebildeten Massen bestimmt waren. Weitere Kategorien von Mujtahids werden von den Gelehrten der Usul aufgeführt, doch sind die Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen feiner und für unser Thema eher unbedeutend. Sie lasssen sich in der Praxis auf zwei Kategorien reduzieren: Den Muttabi' ("Nachfolger"), der seinem Madhhab folgt und sich dabei der qur'anischen Quellen und hadiith-Texte sowie der den jeweiligen Positionen zugrundeliegenden Erklärungen bewusst ist; und zweitens den Muqallid ("Nachahmer"), der dem Madhhab einfach aufgrund seines Vertrauens in seine Gelehrten folgt, ohne unbedingt die detaillierten
Erklärungen für all seine Tausenden von Regeln zu kennen.

 

 

Warum man ein Muqallid (Anhänger eines Madhhab) sein sollte

 

Natürlich ist es jedem Muqallid empfohlen, so viel wie ihm oder ihr möglich von den formellen Belegtexten seines Madhhab zu lernen. Doch ebenso natürlich ist, dass nicht jeder Muslim ein (Rechts-)Gelehrter sein kann. Das Studium der Rechtswissenschaft ist mit gross em Zeitaufwand verbunden, und damit die Ummah ordnungsgemäss funktionieren kann, ist es notwendig, dass die Mehrzahl der Menschen einer anderen Beschäftigung wie z. B. der des Buchhalters, Militärs, Metzgers etc. nachgehen. Als solchen kann man von ihnen vernünftigerweise nicht erwarten, dass sie allesamt gross e 'Ulema werden, selbst wenn wir davon ausgingen, dass sie alle über die erforderliche Intelligenz verfügen. Im heiligen Qur'an selbst wird festgelegt, dass weniger gut informierte Gläubige sich an qualifizierte Fachleute wenden sollen: "So fragt die Leute der Erinnerung, wenn ihr nicht wisst" (16:43). Den Tafsir-Experten zufolge sind mit "Leute der Erinnerung" die 'Ulema gemeint. Und in einem anderen Vers wird es den Muslimen zur Pflicht gemacht, eine Gruppe von Spezialisten zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die für die autorisierte Führung der Nicht-Spezialisten sorgen sollen: "Warum bricht nicht aus jeder Gemeinde eine Gruppe auf, auf dass sie Wissen in der Religion erlangen und es ihren Leuten verkünden, wenn sie zu ihnen zurückkehren, auf dass sie sich in acht nehmen." In Anbetracht des hohen Grades an Kenntnissen, die zum exakten Verständnis der offenbarten Texte notwendig sind, und der eindringlichen Warnungen, die uns vor Verzerrungen der Offenbarung gegeben wurden, ist es offensichtlich, dass einfache Muslime verpflichtet sind, der Meinung von Fachleuten zu folgen, statt sich auf ihre eigenen Deutungen und ihr eigenes begrenztes Wissen zu verlassen. Diese offenkundige Verpflichtung war den frühen Muslimen bestens vertraut: Der Khalif 'Umar, möge Allah mit ihm zufrieden sein, folgte bestimmten Regelungen Abu Bakrs, möge Allah mit ihm zufrieden sein, indem er sagte: "Ich würde mich vor Allah schämen, von der Ansicht Abu Bakrs abzuweichen." Und Ibn Masûd, möge Allah mit ihm zufrieden sein, obwohl er ein Mujtahid im vollen Sinne des Wortes war, folgte in bestimmten Angelegenheiten 'Umar, möge Allah mit ihm zufrieden sein. Al-Scha'bi berichtet: "Sechs der Prophetengefährten, möge Allah mit ihnen zufrieden sein, pflegten den Leuten Fatwas zu geben: Ibn Masûd, 'Umar ibn al-Khattab, 'ali, Zayd ibn Thabit, 'Ubayy ibn Ka'b und Abu Musa al-Asch'ari. Unter diesen waren drei, die ihr eigenes Urteil zugunsten des Urteils eines anderen aufzugeben pflegten: 'abdullah ibn Masûd gab sein Urteil zugunsten des Urteils von 'Umar auf, Abu Musa gab sein Urteil zugunsten des Urteils 'alis auf, und Zayd gab sein Urteil zugunsten des Urteils 'Ubayy ibn Ka'bs auf, möge Allah mit ihnen allen zufrieden sein. Diese Aussage, nämlich dass man gut beraten ist, einem der gross en Imame als Führer in Sachen der Sunnah zu folgen, statt sich auf sich selbst zu verlassen, gilt um so mehr für Muslime in Ländern wie Grossbritannien, unter denen nur ein kleiner Prozentsatz für sich das Recht beanspruchen kann, in dieser Angelegenheit eine Wahl zu treffen. Der einfache Grund ist, dass, wenn man nicht Arabisch kann, man nicht in der Lage ist, alle eine bestimmte Angelegenheit betreffenden Hadiithe zu lesen, selbst wenn man es möchte. Aus verschiedenen Gründen, Daarunter ihrem gross en Umfanges wegen, liegen nicht mehr als zehn der bedeutenden hadiith-Sammlungen in englischer Übersetzung vor. Es bleiben weit über dreihundert andere Sammlungen, unter ihnen solch grundlegende Werke wie das Musnad des Imam Ahmad ibn Hanbal, das Musannaf des Ibn Abi Schayba, das Sahih des Ibn Khuzayma, das Mustadrak des al-Hakim und eine gross e Zahl anderer vielbändiger Sammlungen, die viele authentische Hadiithe enthalten, die nicht in Bukhari, Muslim und den anderen bisher übersetzten Werken zu finden sind. Selbst wenn wir davon ausgehen, sämtliche vorliegenden Übersetzungen seien vollkommen fehlerfrei, muss uns doch klar werden, dass eine Vorgehensweise, die die Schar'Iiah direkt aus dem Buch und der Sunnah abzuleiten versucht, nicht von Leuten in die Tat umgesetzt werden kann, die keinen Zugang zum Arabischen besitzen. Der Versuch, die Schar'Iiah  ausschliess lich auf der Grundlage der übersetzten Hadiithe festzulegen, hiesse einen gross en Teil der Sunnah zu ignorieren und zu amputieren, mit dem Resultat gefährlicher Verfälschungen. Hier möchte ich dafür nur zwei Beispiele nennen. Die sunnitischen Madhhabs legen in ihren Regeln zur Durchführung von Gerichtsverfahren das Prinzip fest, dass die kanonischen Strafen (Hudud) in Fällen, in denen die geringste Unklarheit besteht, nicht angewendet werden sollen und dass der Qadi sich aktiv Daarum bemühen soll, nachzuweisen, dass solche Unklarheiten bestehen. Ein Amateur wird beim Studium der "Authentischen Sechs" Überlieferungen keine Bestätigung dafür finden. Und doch stützt sich diese Madhhab-Regel auf ein hadiith mit zuverlässiger Überliefererkette, festgehalten im Musannaf des Ibn Abi Schayba, dem Musnad des al-Harithi und dem Musnad des Musaddad ibn Musarhad. Der Text lautet: "Wendet die Hudud ab mit Hilfe von Unklarheiten". Imam al-Sana'ani gibt in seinem Buch Al-Ansab die Umstände der Überlieferung dieses hadiith wieder: "Ein Mann wurde betrunken aufgegriffen und vor 'Umar gebracht, der anordnete, dass die Hadd von achzig Schlägen an ihm vollzogen werde. Nachdem dies geschehen war, sagte der Mann: "'Umar, du hast mir unrecht getan! Ich bin ein Sklave!" (Sklaven erhalten nur die Hälfte der Strafe.) 'Umar war daraufhin verzweifelt vor Schuldgefühl und rezitierte das hadiith des Propheten, Allahs Segen und Friede sei über ihm: "Wendet die Hudud ab mit Hilfe von Unklarheiten". 

 

Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die wichtige, von den Madhhabs anerkannte Praxis, das Sunnah-Gebet so schnell wie möglich nach dem Maghrib-Pflichtgebet zu verrichten. Das hadiith lautet: "Beeilt euch, die zwei Rak'at nach dem Maghrib zu verrichten, denn sie werden gemeinsam mit dem Pflichtgebet (zum Himmel) emporgetragen!" Das hadiith wird von Imam Razin in seinem Jami' überliefert. Wegen ihrer traditionellen, tiefer Frömmigkeit entspringenden Furcht vor einer Verfälschung des göttlichen Gesetzes hat die überwältigende Mehrheit der gross en Gelehrten der Vergangenheit ? sicherlich weit über neunundneunzig Prozent ? loyal an einem Madhhab festgehalten. Es ist wahr, dass im von Wirren geplagten vierzehnten Jahrhundert eine Handvoll von Abweichlern auftauchte wie Ibn Taymiyya und Ibn al-Qayyim; doch selbst diese Personen empfahlen niemals, dass halb-gebildete Muslime versuchen sollten, Ijtihad zu unternehmen. Selbst wenn diese Autoren in letzter Zeit "wiedererweckt" und zu Berühmtheiten gemacht worden sind, ist ihr Einfluss auf das traditionelle Gelehrtentum des klassischen Islam zu vernachlässigen, wie schon die geringe Anzahl von Manuskripten ihrer Werke in den gross en Bibliotheken der Islamischen Welt verrät. 

 

 

Die derzeit gängige Stimmungsmache gegen die Rechtsschulen 

 

Trotz alledem haben gesellschaftliche Turbulenzen eine Reihe von Autoren emporgebracht, die die Aufgabe autorisierten Gelehrtentums fordern. Die prominentesten Figuren in dieser Kampagne waren Muhammad Abduh und sein Schüler Muhammad Raschid Rida. Beeindruckt vom Triumph des Westens und in subtiler Weise geleitet von ihrer eigenen wohldokumentierten Verpflichtung zum Freimaurertum riefen sie die Muslime auf, die "Fesseln des Taqlid" abzuwerfen und die Autorität der vier Rechtsschulen nicht länger anzuerkennen. Heutzutage ist es in einigen arabischen Hauptstädten, besonders dort, wo die ursprüngliche Tradition orthodoxer Gelehrsamkeit geschwächt ist, an der Tagesordnung, junge Araber zu sehen, die ihre Wohnungen mit allen irgendwo greifbaren hadiith-Sammlungen vollstopfen und über diesen brüten, offensichtlich in dem Glauben, dass sie einer Fehlinterpretation dieser unermesslich gross en und komplexen Literatur weniger leicht anheimfallen als Imam Schafi'I, Imam Ahmad und die anderen gross en Imame. Es fällt nicht schwer, vorherzusagen, dass dieses verantwortungslose Vorgehen, auch wenn es noch nicht überall verbreitet ist, stark divergierenden Ansichten Tor und Tür öffnet, die in gefährlicher Weise die Einheit, Glaubwürdigkeit und Effektivität der Islamischen Bewegung schädigt und harte Auseinandersetzungen über Fragen provoziert, die von den gross en Imamen vor über tausend Jahren geklärt worden sind. Es ist heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr, junge Aktivisten bei ihren Streifzügen durch die Moscheen zu sehen, auf denen sie andere Gläubige für das kritisieren, was sie für Fehler in deren Gebetsformen halten, selbst wenn ihre Opfer dabei dem Urteil eines der gross en Imame des Islam folgen. Die dabei erzeugte unerfreuliche, pharisäerhafte Atmosphäre führt dazu, dass viele weniger engagierte Muslime überhaupt nicht mehr zur Moschee kommen. Keiner scheint sich an die Ansicht der frühen 'Ulema zu erinnern, dass die Muslime unterschiedliche Interpretationen der Sunnah tolerieren sollten, solange diese Interpretationen von angesehenen Gelehrten vertreten werden. Wie Sufyan ath-Thauri sagte: "Wenn du jemanden etwas tun siehst, worüber unter den Gelehrten unterschiedliche Ansichten bestehen und was du selbst für verboten hältst, solltest du ihm nicht verbieten, es zu tun." Die Alternative zu diesem Vorgehen ist klar ersichtlich eine Uneinigkeit und Zwietracht, die die Gemeinschaft der Muslime von innen her vergiften wird. In einer westlich geprägten globalen Kultur, in der die Menschen von Kindesbeinen an aufgefordert werden, "für sich selbst zu denken" und jede Art von bestehender Autorität in Frage zu stellen, kann es gelegentlich
schwerfallen, genug Demut aufzubringen, seine eigenen Grenzen zu erkennen. Wir alle sind wie kleine Pharaonen: Unsere Egos sind von Natur aus immun gegen die Vorstellung, jemand anderes könnte wesentlich intelligenter oder gebildeter sein als wir selbst. Der Glaube, dass einfache Muslime, selbst wenn sie nicht einmal Arabisch können, qualifiziert sind, selbständig Regeln der Schar'Iiah abzuleiten, ist geradezu ein Paradebeispiel für diese amoklaufende Selbstherrlichkeit. Für junge Menschen, die stolz auf ihr eigenes Urteil und nicht vertraut mit der Komplexität der Quellen und dem Scharfsinn authentischen Gelehrtentums sind, kann dies zu einer wirksamen Falle werden, die darin mündet, sie vom traditionellen Weg des Islam weg in ungewollte
Verhaltensweisen zu locken, die tiefe Gräben zwischen den Muslimen aufreissen. Die Tatsache, dass alle gross en Religionsgelehrten einschliess lich der hadiith-Experten selbst einem Madhhab angehörten und von ihren Schülern verlangten, dass sie einem Madhhab angehören, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Die Überheblichkeit hat einen gross en Sieg über den gesunden Menschenverstand und Islamisches Verantwortungsbewusstsein errungen. Im Heiligen Qur'an wird den Muslimen befohlen, ihren Verstand und ihre Fähigkeit zu denken zu nutzen; die Frage des Befolgens qualifizierten Gelehrtentums ist ein Bereich, in dem diese Fähigkeiten mit gröss ter Sorgfalt angewendet werden sollten. Als Ausgangspunkt sollte gewürdigt werden, dass kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Usul al-figh und irgendeiner anderen spezialisierten, zeitaufwendiges Studium erfordernden Wissenschaft existiert. 

 

 

Die Gefährlichkeit des selbst-fabrizierten Ijtihad

 

Schaykh Sa'Id Ramaḍaan al-Buti, der die Antwort des traditionellen Islam gegen die anti-Madhhab-Stimmung in seinem Buch "Nicht-Madhhabismus: Die gröss te Bid'a als Bedrohung der Islamischen Schar'Iiah" artikuliert hat, vergleicht die Wissenschaft der Ableitung von Regeln mit der medizinischen Wissenschaft. Er fragt: "Wenn jemandes Kind ernsthaft erkrankt ist, sucht er dann selbst in der medizinischen Fachliteratur nach der zutreffenden Diagnose und den entsprechenden Heilmitteln, oder sollte er nicht zu einem ausgebildeten Arzt gehen?" Ein geistig Gesunder wird wohl die letztere Möglichkeit wählen. Nichts anderes gilt auch in Glaubensdingen, die in Wirklichkeit noch viel wichtiger und mit viel gröss eren potentiellen Gefahren behaftet sind. Wir
wären sowohl dumm als auch verantwortungslos, wenn wir versuchten, selbst die Quellen auszuwerten und unser eigener Mufti zu werden. Statt dessen sollten wir einsehen, dass diejenigen, die ihr ganzes Leben damit verbracht haben, die Sunnah und die Gesetzesprinzipien zu studieren, dabei weniger leicht Gefahr laufen, Fehler zu machen, als wir. Ein anderer Vergleich liesse sich hinzufügen, diesmal aus dem Bereich der Astronomie. Wir könnten den Qur'an und die Hadiithe mit den Sternen vergleichen. Mit dem blossen Auge können wir viele von ihnen nicht klar erkennen; deshalb brauchen wir ein Teleskop. Wenn wir dumm sind oder stolz, mögen wir versuchen, selber eines zu bauen. Wenn wir jedoch vernünftig und bescheiden sind, werden wir uns glücklich schätzen, eines zu benutzen, das Imam Schafi'I oder Ibn Hanbal für uns konstruiert haben und das von Generationen von gross en Astronomen verfeinert, geschliffen und verbessert worden ist. Ein Madhhab ist kurz gesagt nichts anderes als ein Präzisions-Instrument, das uns ermöglicht, den Islam mit grösstmöglicher Klarheit zu sehen. Und noch ein drittes Bild mag zur Illustration benutzt werden: Ein uraltes Gebäude, nehmen wir die Blaue Moschee in Istanbul, mag einigen, die darin ihr Gebet verrichten, unvollkommen erscheinen. Junge Enthusiasten, erfüllt von dem leidenschaftlichen Wunsch, das Gebäude noch ausgezeichneter und vorzüglicher (und zweifelsohne mehr ihren eigenen zeitbedingten Vorlieben entsprechend) zu gestalten, könnten sich Zugang zu den Krypten und Kellergewölben verschaffen, die der architektonischen Struktur zugrunde liegen, und auf der Grundlage ihres eigenen Verständnisses von Prinzipien der Architektur versuchen, die Fundamente und Säulen, die das gross artige Gebäude stützen, zurechtzurücken. Natürlich werden sie weder Zeit mit der Konsultation professioneller Architekten verschwenden, auss er vielleicht einem oder zweien, deren Rhetorik ihnen zusagt, noch sich von den Büchern und Berichten derjenigen leiten lassen, die diese Strukturen über Jahrhunderte hinweg instand gehalten haben. Ihr Eifer und Stolz lassen ihnen dazu keine Zeit. Sie tasten sich durch die Gewölbe, holen ihre Meissel und Schlagbohrer hervor und machen sich in ihrem blinden Enthusiasmus an die Arbeit. Es besteht eine reale Gefahr, dass dem sunnitischen Islam Ähnliches widerfährt. Das Gebäude hat Jahrhunderte überdauert und den erbittertesten Angriffen seiner Gegner widerstanden. Nur von innen heraus kann es geschwächt werden. Zweifelsohne hat der Islam intelligente Gegner, denen diese Tatsache nur allzu gut bekannt ist. Das Schauspiel der Uneinigkeit und Fitna, welche die frühen Muslime trotz ihrer weit gröss eren Frömmigkeit spalteten, und die Beständigkeit und der Zusammenhalt des Sunnitentums nach der Kodifizierung der Schar'Iiah in Form der vier Rechtsschulen der gross en Imame haben sicherlich eine Menge böswilliger Köpfe auf eine Idee gebracht. Dies soll in keiner Weise unterstellen, dass diejenigen, die die gross en Madhhabs angreifen, bewusst Werkzeuge der Feinde des Islam seien. Aber es könnte teilweise erklären, weshalb ihre Schriften ständig in riesigen Auflagen publiziert und sie finanziell mehr als ausreichend versorgt werden, während der traditionellen Alternative die Mittel fehlen. Wenn jeder Muslim ein stolzer Mujtahid ist und Taqlid eher als Sünde abgelehnt denn als bescheidene und notwendige Tugend betrachtet wird, werden die divergierenden Ansichten, die in unserer frühen Geschichte so viel Leid verursacht haben, mit Sicherheit wieder zutage treten. Statt vier Madhhabs in Harmonie miteinander, wird es eine Milliarde Madhhabs in erbittertem und selbstherrlichem Konflikt gegeneinander geben. Eine intelligenter ausgeklügelte Strategie zur Vernichtung des Islam könnte es nicht geben. 

 

Erstmals erschienen in  "Der Morgenstern - Forum der Muslime", Nr. 8, 4. Quartal 1997, S. 30 ff., Spohr Verlag Kandern - vgl. http://www.abendstern.de - Nachdruck mit freundlicher Erlaubnis des Verlages.

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